„Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Er übte den schlichten Beruf eines Lehrers aus. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet. Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halbverhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen landesüblichen jüdischen Kaftan, dessen Schöße flatterten, wenn Mendel Singer durch die Gassen eilte, und die mit hartem regelmäßigen Flügelschlag an die Schäfte der hohen Lederstiefel pochten. Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewiß war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder mußte er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin, wie ein kleiner armer Bach zwischen kärglichen Ufern.“
„Joseph Roths Hiob erschien 1930, wenige Jahre bevor die Zerstörung der darin dargestellten Welt begann. Dies ist eine der uralten Geschichten, so erscheint sie jedenfalls, die seit Menschengedenken von Mund zu Mund weitererzählt werden, einfach, farbenreich, figurenvoll, die immerwährende Saga vom Menschen, den Gott so schrecklich prüft und schließlich zu sich erhebt – die Menschheitsgeschichte von Hiob.“
Paul Schallück (aus dem Umschlagtext der Taschenbuchausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch, 1982).
Es liest: Eckart Freund